Lexikalische Begriffsbestimmung: SELBST (Überarbeitet)

Das Selbst wird vielfach als der innerste und den verschiedensten Deutungsmöglichkeiten zugängliche Kern des Menschen angesehen. Bei Sokrates richtet sich sein Gespräch nicht an das Äußerliche des Partners, sondern an ihn selbst, seine Seele. Das Selbst ist das menschlicherweise Lebende des Lebens.

Die reflexive Selbstbesinnung ist aber immer eine Einheit mit der Seinsbesinnung in der es letztlich um das Gutsein des Menschen als Sorge um die Seele geht. Plotin setzt Seele und Ich gleich und entwickelt eine vollendete natürliche Mystik. Die Einzelseele löst sich aus der Ganzheit der Weltseele und gelangt, einerseits getrieben vom Eros und andererseits angezogen von der Kraft der Ureinheit (Gott) wieder zur Einheit des Seins zurück. Die Seele ist ihrer Natur nach geistig und unsterblich, besteht aber aus der höher bewerteten Vernunftseele, die mit Freiheit ausgestattet ist und deren Wesen in der Selbstbewegung besteht und dem niederen Teil, der der materiellen Welt verhaftet ist. Die Selbstbewegung führt über drei Stufen zur ekstatischen, mystischen Schau Gottes und gibt damit die Gewißheit einer endgültigen Vereinigung mit Gott nach dem Tode. Aber selbst in der Vereinigung mit Gott verliert die Seele nicht ihre Individualität.

Nach Augustinus vergegenwärtigt sich das Ich als Selbst in der memoria, um aber auch zu erkennen, daß der Geist zu beengt ist um sich selbst zu fassen. (Conf. X, 8, 14).

Im 17. Jht greift J. Locke das Wort "self" aus der englischen Umgangssprache auf und verwendet es fast gleichbedeutend mit Person. Seit dieser Zeit wird im englischwissenschaftlichen Sprachraum das Selbst zwischen den Polen Selbstbewußtsein (auch memory) und Körperlichkeit (auch brain) angesiedelt und damit die Diskussion um die Identität des Ichs verbunden.

Der Deutsche Idealismus findet das Selbst in einer differenzierten Spekulation als die Reflexionsbewegung am Verhältnis an sich, das ihm die Entwicklung der Wahrheit (zu sich selbst) bedeutet. Er thematisiert das Problem der Freiheit als das der Selbstbestimmung (im Zeichen der Freiheit kann das Ich nur sich selbst wollen). Die Selbstbestimmung gründet aber nicht nur in der Vernunft sondern ist die reine Tätigkeit des sich selbst seienden und sich selbst setzenden Wesens. Diese reine Tätigkeit wird als Selbstvermittlung (Zusammenfall von Form und Inhalt) erfaßt, die die Möglichkeit der Selbstkonstitution der reinen Subjektivität schafft. Bei Fichte wird das Ich zum Prinzip der Phil. Die Verhältnisse zur Wirklichkeit, zum Du und zu Gott sind zuletzt Selbstverhältnisse. Das endliche Ich ist diese Verhältnisse. Alle diese Verhältnisse erhalten aber erst aus dem absoluten Ich (das Fichte auch Idee, Zweckbegriff und Gott nennt) und dem entsprechenden absoluten Verhältnis ihren Sinn. Dieses absolute Verhältnis ist aber nicht ein Verhältnis zu einem Absoluten als einem Ding an sich, sondern unmittelbares Verhältnis zu sich selbst in der Form absoluter Selbstvermittlung. Das absolute Verhältnis bestimmt sich nicht aus dem zufälligen einzelnen Ich, sondern ist die Individualität schlechthin (und deswegen ideal), für das ein ethisches Gemeinwesen (Pflicht zu Kirche, Staat) notwendig ist. Dieses absolute Verhältnis des Selbstbewußtseins zu sich selbst ist bereits göttlich und bedarf auch keiner Aufforderung zu einem Glauben mehr (Pantheismus).

Bei Hegel ist die Bewegung der Wahrheit eine Bewegung des Ansich zu sich selbst, zu sich selbst sowohl als einzelnem Bewußtsein, wie auch als Gesamtbewußtsein der Geschichte, der Philosophie, der Kunst, der Religion, etc. Infolge der Identifikation von Logik und Ontologie ist der Gang in die Realität kein Außersichgehen, als ein sich von sich Entfremden, sondern als ein Zusichkommen. Wenn der Begriff schließlich sich selber als Begriff begriffen hat (auf der Stufe der Idee) ist die Ureinheit dieser Synthese die Einheit von Reflexion und Reflektiertem erreicht. Dann ist das "Ich denke" die Einheit von Selbstbewußtsein als Selbstbewußtsein, aber nicht die Einheit der subjektiven Wahrheit des Selbst, sondern als Selbst alle Wahrheit. Das Ziel des Selbst, der zu sich gekommene Geist ist erreicht, das Denken ist vollendet.

Die (bis heute nachvollzogene) Kritik Schellings an Hegel ist die Frage, ob es überhaupt möglich ist, daß das Denken sich zunächst vollenden und absolut setzen kann, um dann die Natur zu vermitteln (Hegels "Idee, die sich frei entläßt"). Schelling verneint die Frage und fordert in der "positiven Philosophie" den Hinausgang der Vernunft in die Transzendenz, das bedeutet, daß die Vernunft sich im Ich ekstatisch negieren muß. Aber wenn das Ich, als Wirkendes sich aufgebend und sich in mystischer Frömmigkeit und Kontemplation sich auf seine Selbstheit zurückzieht, in reiner Schau seine Ichhaftigkeit zu vergessen sucht, erringt es zwar auch Gott, aber es ist nur der ideelle Gott (nur seinem Wesen nach Gott = Gott als Finalursache), nicht der wirkliche Gott. Nur in dem darauf folgenden Zweifel an der kontemplativen Vernunft kann das Wollen zur Absolutheit rein heraustreten und es erscheint das Gewollte als reine Selbstbestimmung, als reine Subjektivität, als Person, dem Sein transzendent. Damit dringt Schelling im Ansatz durch das Reflexionsallgemeine zur Persönlichkeit vor.

Diese spekulative Identitätsthese löst Kierkegaard auf, in dem er die Selbstsetzung zugunsten eines Gesetztwerdens distanziert (Gott als Schöpfer) und das Selbstverhältnis und Gottesverhältnis radikal unterscheidet. Er trennt auch wieder Sein und Begriff, sodaß die Philosophie nicht das Wissen des zu sich kommenden Geistes ist, sondern sein endliches System steht dem absoluten gegenüber. Das Selbst, das Geist ist, ist eine positive Synthese in dem das Selbst sich ausdrücklich zu sich selbst verhält, was bedeutet, daß das Selbstbewußtsein der Wille zu sich wird. Denn erst wenn ausdrücklich auf Momente innerhalb der Einheit Mensch reflektiert und sich bewußt dazu verhalten wird, ist das Selbst. Im Ausgang von Subjekt und seinem Selbstbewußtsein bleibt bei Kierkegaard aber die Wahrheit des Subjekts eine gedachte, die nur kraft des Glaubens Fülle hat. Das Selbst, das er als dieses endliche bewahren wollte, um nicht abstrakt unendlich zu werden, scheint aber doch in eine abstrakte Unendlichkeit einzugehen.

Im Deutschen Idealismus bewirkt die synthetische Struktur des Selbst das Werden des Selbst. Bei Fichte bleibt es in der ständigen Bewegung des Synthetisierens, bei Hegel solange, bis der Geist zu sich gekommen ist, bei Kierkegaard ist das Ziel des Selbst letztlich der Sprung in den Glauben.

Die "Nachhegelianer" (Feuerbach, Marx, etc.) verschärfen den Gegensatz, indem sie grundsätzlich von außervernünftigen Wirklichkeiten ausgehen. Die moderne Sicht Das Selbst liegt als materialer Bestand dem Ich zugrunde, das nur als die formale Einheit aller wechselnden Akte bestimmt wird. Das Selbst greift einerseits über den aktualen, intellektuellkognitiven Bestand des Ichs hinaus; es transzendiert das Ich in materialer, genealogischentwicklungsgeschichtlicher Hinsicht. Andererseits ist das Selbst aber enger zu fassen als das Ich, welches die über das Selbst hinausdrängende Geistnatur des Menschen darstellt.

In der christlicheuropäischen Tradition wird das Selbst nicht statisch gesehen, sondern das Selbst bedarf der Entwicklung (Überwindung der Selbstsucht des Menschen), kraft seiner Bestimmung zur Selbsterfüllung in den Persönlichkeitswerten.

Im Gegensatz dazu sieht die asiatische Tradition im Selbst (Atman) den Anteil des Individuums an der allumfassenden kosmischen Geistigkeit (Brahman), die nicht in der einfachen Reflexion des Selbstbewußtseins erfaßt werden kann, sondern nur in der tieferen, meditativen Versenkung (Mystik).

Monod de Froideville E. Willibald: Rückkehr zum Selbst, Frankfurt 1951. Schulz Walter: Die Vollendung des Deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings, Stuttgart/Köln 1955 Kuhn Helmut: Sokrates Versuch über den Ursprung der Metaphysik, München 1959 Guardini R: Die Annahme seiner Selbst, Würzburg 1960 Bronowski J.: The Identity of Man, London 1966 Holl Jann: Kierkegaards Konzeption des Selbst, Meisenheim am Glan 1972 Shimizu Masumi: Das Selbst im MahayanaBuddhismus in japanischer Sicht und die Person im Christentum im Licht des Neuen Testaments, Dissertation Bonn 1979 Eccles, J. C.: Evolution of the Brain: Creation of the Self, London/New York 1989, deutsch: Die Evolution des Gehirns die Erschaffung des Selbst, Zürich 1989 (19932)

Heinz Husslik