Lexikalische Begriffsbestimmung: REALISMUS

Da unter dem philosophischem Realismus die unterschiedlichsten und einander widersprechendsten Wirklichkeitsaussagen gemacht werden, kann keine allg. gültige inhaltliche Definition gegeben werden. So wird die platonisierende Philosophie, die den Materialismus verwirft (A. N. Whitehead), genauso als Realismus bezeichnet wie auch der Neopositivismus, der moderne Empirismus und Materialismus.

Der Begriff Realismus führt in die Diskussion um Bewusstseinsbilder der Wirklichkeit ein. Er antwortct auf Frage nach der Konstitution der Realität in ihrer Bedeutung für uns (in der Form eines crkenntnistheoretischen Werturteils). Nur der naive Realismus findet in der Erkenntnis der Welt kein Problem, während jede andere Form des Realismus, aus der Erfahrung möglichen Irrtums, differenziert. Die in der Wirklichkeit vorausgesetzte Differenz von denkendem Subjekt und wirkendem Objekt Subjektivismus und Objektivismus) wird vom Realismus entweder mit der ausschließlichen Priorität des Objekts (Extremform: Materialismus) oder mit dem relativen Verhältnis beider (erkenntnistheoretischer Realismus; Neuscholastik) beantwortet. Die Priorität des wirkend-denkenden Subjekts führt zu seinem Gegenbegriff, dem Idealismus.

Der Realismus bestimmt aber auch die Differenz im Allgemeinen (Allgemeinbegriff) dahingehend, daß der Allgemeinbegriff im Einzelnen (in re) auch wirklich ist (der gemäßigte Realismus: Aristoteles), während der Nominalismus das Allgemeine für einen bloßen "Namen" oder ein "Wort" hält und der Konzeptualismus (Ockham) von einer bloßen Denkform, vor jeder Erfahrung, spricht. Die Extremform des Realismus führt zum "Begriffs"-Realismus, zur Selbständigkeit dieser allgemeinen Wesenheiten (Johannes Scotus, abgewandelt bei Bonaventura und Duns Scotus).

Der metaphysische Idealismus Platons (427-347) versteht die Ideen als das wahre Sein der Dinge, deren sich die Seele beim Anblick der Dinge wiedererinnert (ante rem: metaphysischer Realismus). - Nach Aristoteles (384-322) wird die Form (So-Sein, Eidos) des individuellen Dinges durch das Denken erfasst (abstrahiert). Die Abtrennung des Allgemeinen vom Individuellen führt zur abstrakten Fassung des Allgemeinbegriffes, und diese Spaltung führte im MA zum Universalienstreit. Jedes Allgemeine steht nun dem eigentlich realen Einzelding in grundsätz- lich gleichgearteter Differenz gegenüber. - Daraus ergibt sich die Frage, wie das Unterschiedene das Eine wird, als das es ja immer angesprochen wird. Die ma. Lösung gipfelte im gemäßigten Realismus (Albertus Magnus, Thomas v. Aquin), wonach das Wesen als etwas Reales in den Dingen anerkannt wird; sofern es aber durch Abstraktion allg. aufgefaßt wird, ist es formal ein Denkgebilde.

Mit Rene Descartes (1596-1650) wird auf methodische Weise der Problembereich des Realismus um den der individuellen Gewißheit erweitert. Da aber die Selbstgewißheit nur eine formale Bedingung der Erkenntnis ist, hängen bei ihm Gewißheit und Wahrheit von der Erkenntnis des Garanten der Wirklichkeit, von Gott ab.

Die widersprüchlichen Resultate der erkennenden Gewißheit werden von I. Kant (1724 - 1804) systematisch nach den vorausgesetzten formalen Bedingungen der Möglichkeit wahrer Erkenntnis untersucht: "nicht ob es reale Gegenstände sondern unter welchen Bedingungen die Existenz realer Gegenstände möglich ist". Da die Frage nach einer bloßen Gegenüberstellung von erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt und deren Verhältnis zueinander immer wieder in einen unendlichen Regress führt (da die Reflexion auf das Verhältnis selbst wieder der Gegenüberstellungsproblematik unterliegt, et infinitum), zeigt Kant, dass es die Synthesisleistung des Bewußtseins ist, das aus einem nicht erkennbaren, grenzbegrifflichen "Ding an sich" den Erkenntnisgegenstand über die Formen der Anschauung (Raum und Zeit) und des Denken (Kategorien) gewinnt. Diese Konzeption Kants wurde maßgebend für die über 100 Jahre währende Auseinandersetzung über das Realitätsproblem.

N. Hartnamm (1882 - 1950) kritisiert die aus dem "Zusammenhang der Lebensphänomene herausgenommene isolierte Betrachtung der Erkenntnisphänomene." Diese Argumentationen bleiben aber dem circulus vitiosus verhaftet, weil hier der Grund der Erfahrung als Erfahrbares behauptet wird (siehe schon J. G. Fichte).

Der Realismus wird unter Berücksichtigung der intersubjektiven Leistung der Sprache (Sprachtranszendentalismus) zu einem Kommunikationsproblem einer unendlichen Kommunikationsgemeinschaft (Peirce, Royse, Wittgenstein, K.-O. Appel).

Der engl. Neo-Realismus (B. Russell, A. N. Whitehead) versteht den Realismus als Prozeß ohne durchgängige Dinglichkeit, darstellbar mittels der Relationen der symbolischen Logik.

Die Dialektik (dialektische Einheit von Abstraktem und Konkretem) postuliert, mittels ihres methodischen Ganges die Widersprüchlichkeit des Realismusansatzes überwunden zu haben.

Im Kontrast zur europ., rationalen Tradition bestehen in der asiat. Aagassang des "I belong there I am" andere Zugänge zur Wirklichkeit, wie in der Form des monistischen Paradigmas, in dem die Wirklichkeit immer schon als undiskutierbar vorgegehen angenommen wird.

l.it.: Werkmcistcr, W. H.: A History of Philosophical Ideas in Amcrica, Ncw York 1949 - Hurst, R. J.: Art. Realism, in: Edwards, P. (Ed.): The Encyclopedia of Philosophy, Vol. 7, New York/l.ondon 1967, 77-83 (mit ausführlicher Bibliographie) - Gethmann, (C.F.: Art. Realität, in: Krings, H./ Baumgartncr, H. M./Wild, Ch. (Hgg.): Hb. philos. Grundbegriffe, Bd. 4, München 1973, 1168-1187 - Brugger, W. (Hg.): Philos. Wb., Frciburg/Bascl/Wicn 1976 - Heintcl, E.: Grundriss der Dialektik, Bd. II, Darmstadt 1984, 30 ff - Gutheinz, L.: China im Wandcl (Chin. Denkcn im Umbruch seit d. 19. Jh.), Münchcn 1985.

Heinz Husslik