Lexikalische Begriffsbestimmung PROZESSPHILOSOPHIE

Prozess (lat. processus) kommt erst im MA in der Jurisprudenz zur Bedeutung ("processus iudicii" ab etwa 1300 n. Chr.) und bezeichnet den Mechanismus der Verfahrensordnung.

1.1. In der Naturwiss. versteht man unter Prozess die dynamische Aufeinanderfolge von verschiedenen Zuständen eines Dinges bzw. Systems. Dabei werden determinierte Prozesse (bei denen jeder Zustand eindeutig aus dem vorangegangenen hervorgeht) und stochastische oder statistische Prozesse (bei denen nur eine gewisse Wahrscheinlichkeit der Aufeinanderfolge von Zuständen besteht) unterschieden. Die Erfahrung zeigt, dass determinierte Prozesse nur Idealisierungen stochastischer Prozesse sind (oder - wie in der Mathematik - als bloße Grenzfälle bezeichnet werden).

2. Der allgemeine und geschichtsphilos. Begriff des Prozesses stammt aus der Naturphilosophie und Chemie. Bedurfte der Prozess noch der Vorstellung eines Operateurs (A. von Humboldt), so wird der Begriff des Prozesses seit dem Dt. Idealismus zu einer subjektlosen Aufeinanderfolge von Zuständen. Das Leben (G. W. Ritter), die Geschichte (K. Rosenkranz, B. Bauer, A. Ruge), die Natur (Schlegel) und das Universum (G.W.Ritter) werden als Prozesse aufgefasst. G. W. F. Hegel (1770-1831) begreift den "absoluten Prozess" mit der dialektischen Methode (Dialektik) als Gang des Geistes durch Natur und Geschichte, als Selbstdarstellung des Geistes. Der dialektische Prozess wird von K. Marx (1818-1883) um den Begriff der gesellschaftlichen Produktionsprozesse erweitert, die die Basis der abstrakten Prozesse des Überbaus bilden.

2.1. Im Neukantianismus (P. Natorp, E. Cassirer) wird die Erkenntnisgewinnung (die Methode) als Prozess verstanden, aber nicht dem Gegenstand zugeschrieben. Für E. v. Hartmann (1842-1906) bestimmen unbewusste Prozesse alle Formen der Erscheinung des Bewusstseins (z. B. auch Erkenntnis). Der oberste Prozess ist der Weltprozess, der durch eine Weise der Logik das Bewusstsein vom unlogischen Willen befreit. N. Hartmann (1882- 1950) sieht das Leben als Prozess, der von einfachen zu immer höheren und damit komplexeren Prozessen fortschreitet. Die Lebewesen müssen als Geschichte aufgefasst werden, deren Epochen und Augenblicke jeweils Perspektiven sind (Merleau-Ponty).

2.2. Das evolutionistische Denken P. Teilhard de Chardins (1881-1955) sieht die Beständigkeit in der ordnenden Gestalt des dynamischen Geistes (Anziehungskräfte, Organisation der Lebewesen, die Kräfte des Aufbaus des Universums), nicht in der Statik einer Materie. Der Geist ist aber weder Nicht-Materie noch "über" ihr, sondern er ist in ihr als ihre authentische Wirklichkeit. Die Entwicklung des Kosmos führt in Richtung immer größerer konvergenter Komplexität. Die Komplexität ist die Wirklichkeit, nicht deren materielles Substrat. Die Konvergenz erscheint sowohl als einfache Kraft der Anziehung bis zur liebenden Personwerdung des Individuums (Person). Das Gegenteil der Konvergenz ist die Zersetzung (Physiologie, Chemie) bis hin zum Egoismus (in der Noosphäre). Je mehr Vereinigung (Konvergenz) es in der Welt gibt, umso mehr nähert sich die Welt ihrem Ziel: Gott (Teleologie).

3. A. N. Whitehead (1861-1947) entfaltet den Prozess-Gedanken so konsequent, dass es für ihn keine Dinge mehr gibt, die den Prozess tragen, sondern dieser selbst ist die Wirklichkeit. Es gibt nur Werdendes und keine Substanzen im Werden. Whitehead versteht unter Proze6 sowohl den Übergang von einem Ereignis zu dem ihm folgenden (wie in der Naturwiss.), aber auch den internen Vorgang der Konkretisierung (in Analogie zur Synthesis der Dialektik). Das aktuelle Einzelwesen (actual entity) ist nichts Selbständiges, sondern das Produkt ihrer Bezogenheit auf andere actual entities. Die traditionelle Substanzmetaphysik wird von einer (durch die methodische Abstraktion der Naturwiss. beeinflusste Ereignismetaphysik ersetzt. Neben der actual entity als elementarer Kategorie von Wirklichkeit besteht die Hauptkategorie der Relation. Die Natur wird als relationaler, dynamischer Kosmos verstanden. Alle Relationen haben ihren Grund in den realen geschichtl. Zusammenhängen, was zum Primat der Relativität der Geschichte gegenüber der sekundären Relativität der Vernunft führt und als ontologisches Prinzip verstanden wird (Ontologie). Die Einheit von Vernunft und Geschichte wird als eine solche der Perspektivität verstanden, die ihren Grund in der Zeitlichkeit einzelner konkreter Ereignisse (Kategorie: events) hat; aus diesem Grund versteht sich die Philosophie Whiteheads als Philosophie der Endlichkeit.

3.1. Die Dinge oder Ereignisse, die alle miteinander in Wechselbeziehung stehen, vergehen zwar als Individuen, es bleiben aber die Beziehungen bestehen, wodurch sie den Charakter der Unvergänglichkeit erhalten. Gott, der nach Whitehead nicht dem Prozess des Werdens und Vergehens unterliegt, ist somit ein "eternal object", aber auch er macht nicht das Prinzip des Kosmos aus, sondern die Kreativität selbst. Er verkörpert eher die Ur-Ordnung aller naturgegebenen Ordnung, die die Welt in einer hierarchischen Struktur mit physikalischer, biologischer und humanzivilisatorischer Ebene erscheinen lässt. Whitehead ist von H. Bergson (1859-1941) beeinflusst, der die schöpferische Entwicklung (evolution creatrice) als metaphysische Bestimmung des Seins sieht. Die traditionellen Attribute Gottes, wie Unwandelbarkeit, Ewigkeit etc., bestimmt er als bloße Abstraktionen, die Gottes ganze Wirklichkeit nicht erfassen.

4. Ausgehend vom Gottesbegriff Whiteheads erarbeitete die nordamerikan. Prozesstheologie einen christl. Gottesbegriff, der sowohl auf die Überwindung des unwandelbar-absoluten Gottes als auch auf die Überwindung der Priorität der maskulinen Sprache der christl. Theologie zielt g. B. Cobb, D. R. Griffin etc.; Feministische Theologie). Für die moderne Physik besteht die Wirklichkeit nicht aus Dingen in Raum und Zeit, sondern die als Prozess verstandenen Dinge sind selbst Raum und Zeit (K. R. Popper).

Lit.: Whitehead, A. N.: Process and Reality. An Essay in Cosmology (1929) (dt.: Prozess u Realität, Frankfurt/M. 1979) - ders.: Abenteuer d. Ideen, Frankfurt/M. 1971 - Wolf-Gazo, L. (Hg.): Whitehead. Eine Einf. in seine Kosmologie, Freiburg/München 1980 - Holzhey, H./Rust, A./Wiehl, R. (Hgg.): Natur, Subjektivtät, Gott, Frankfurt/M.1990.

Heinz Husslik